Sachen und Wörter

  Motto: "Wie einem Sein oder Geschehen der Satz, so entspricht einer Sache das Wort; nur ist die Beziehung nicht umkehrbar. Ich kann fragen: wie heißt diese Sache? Ich muß fragen: was bedeutet dieses Wort? Die Sache besteht für sich voll und ganz; das Wort nur in Abhängigkeit von der Sache, sonst ist es leerer Schall." (Schuchardt 1912, 829)

VerbaAlpina ist ganz konsequent in bidirektionaler Logik konzipiert worden: Aus semasiologischer Sicht (vgl. Semantik) können alle erfassten Bezeichnungen so abgefragt werden, dass man erfährt, mit welchen KONZEPTEN sie in den lokalen Dialekten jeweils verknüpft sind; diese Richtung vom Wort zur Sache entspricht grosso modo der Vorgehensweise der allermeisten Wörterbücher. Aus umgekehrter, onomasiologischer Richtung können aber auch alle erfassten KONZEPTE abgefragt werden, so dass sich ergibt, mit welchen Bezeichnungen sie in den jeweiligen lokalen Dialekten belegt werden. Onomasiologische Fragestellungen haben eine lange Tradition in der Sprachwissenschaft, die vor allem mit der Bewegung ‘Wörter und Sachen’ oder – in anderer Priorisierung – ‘Sachen und Wörter’ (vgl. Schuchardt 1912]]) verbunden ist; sie wurde von der Überzeugung getragen, dass

"die vergleichende romanische Sprachgeschichte als Korrelat eine vergleichende romanische Kulturgeschichte erfordert" (Bibl:Schuchardt 1899, 195; später wiederholt in Schuchardt 1912, 829, Anm. 1; Hervorhebung im Original).

Die onomasiologische Tradition steht zu Beginn also im Zeichen der – modern ausgedrückt – Ethnolinguistik. Das wichtigste Publikationsorgan war Wörter und Sachen : Zeitschrift für indogermanische Sprachwissenschaft, Volksforschung und Kulturgeschichte (1909-1944); Herausgeber waren der Indogermanist Rudolf Meringer, der Romanist Wilhelm Meyer-Lübke, der Slawist Jooseppi Julius Mikkola, der Germanist Rudolf Much und der Slawist Matija Murko. Speziell für die Romanistik muss zudem die Zeitschrift Volkstum und Kultur der Romanen (1926-45) genannt werden. Das Ende beider Publikationsorgane in den Jahren 1944/45 deutet bereits an, dass sie sich in den 30er Jahren zunehmend an einem faschistischen Volksbegriff orientierten. Diese Ideologisierung der Onomasiologie lag vielleicht nahe, unvermeidlich war sie jedoch nicht. Es wäre sicherlich falsch, der Ethnographie und damit der Ethnolinguistik einen immanenten Faschismus zu unterstellen; faschistisch ist nicht die Dokumentation und Beschreibung der Alltagskultur als solche, sondern deren Interpretation auf der Grundlage eines geschlossenen, essenzialistischen und womöglich rassistischen Kulturbegriffs.

Ein uneingelöstes Versprechen: onomasiologische Lexikographie

Aber auch über die im engeren Sinn ethnolinguistisch relevanten Bereiche hinaus sind onomasiologische Überlegungen durchaus in die Konzeption wichtiger lexikographischer Referenzwerke eingeflossen, wie sich vor allem am FEW zeigen lässt. Zu einer konsequent onomasiologischen Fundierung ist es dann allerdings doch nicht gekommen (Link); erst als das Wörterbuch bereits weit vorangeschritten war, wurde von Walter von Wartburg in Zusammenarbeit mit Rudolf Hallig ein Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie ausgearbeitet (so der Titel von Hallig/Wartburg 1963). In der wortgeschichtlichen und etymologischen Forschung, die Wartburg besonders am Herzen lag, bestätigt sich im Hinblick auf das Verhältnis von Wort- und Sachgeschichte auch nach über 100 Jahren schnell die Feststellung Hugo Schuchardts: "Die Wortforschung ist gegen die Einwirkungen von der anderen Seite immer noch zu sehr durch die ‘Lautgesetze’ anästhesiert" (Schuchardt 1912).
Weiterhin muss festgestellt werden, dass die Onomasiologie nicht gut zum Mainstream der meist als 'modern' apostrophierten Sprachwissenschaft passte. Angesichts der zunehmenden Dominanz formaler und syntaktisch orientierter Modellierungen, die universale Geltung beanspruchen, rückte sie an die Peripherie des Interesses. Erst in den letzten Jahrzehnten ist sie zu neuen Ehren gekommen. Dazu haben ganz unterschiedliche Entwicklungen beigetragen, wie die sogenannte kognitive Wende, in deren Gefolge gerade nach der Motivation sprachlicher Kategorien gesucht wurde/wird, sowie neuerdings die Digital Humanities, die Optionen eröffnet, sprachliche Kategorien systematisch mit nicht-sprachlichen, d.h. 'sachlichen' Normdaten zu verknüpfen. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich ein Klimawandel, der die Rahmenbedingungen der Lexikographie verändert. Davon sind nicht nur neue Arbeiten betroffen, sondern auch für die bereits etablierte und bewährte Lexikographie hat sich ein ganz neuer Horizont eröffnet: Zu den zentralen aktuellen Herausforderungen gehört es ja an erster Stelle, die möglich gewordene Vernetzung der vorliegenden maßgeblichen Lexika ins Werk zu setzen. Ein entsprechendes Verfahren wurde in VerbaAlpina bereits umgesetzt, wie ein Blick in eine beliebige interaktive VerbaAlpina-Karte zeigt: Jeder Beleg ist an der Oberfläche mit unterschiedlichen Referenzlexika verknüpft, deren Siglen durch Anklicken auf die jeweiligen Lexikoneinträge führen (im Beispiel T, T, C, G, F).
Möglich wäre jedoch nicht nur die Vernetzung der Lexika auf der Ebene der Bezeichnungen (= 'Wörter'), wie im vorangehenden Beispiel illustriert, sondern auch auf der Ebene der Konzepte (= 'Sachen') durch geeignete Normdaten; auch dafür sind die Voraussetzungen in VerbaAlpina bereits gegeben, denn – wie das soeben genannte Beispiel ebenfalls zeigt – wurden die Wikidata-IDs integriert (Link "Wikidata" in den Belegfenstern). Eine sachbasierte Verknüpfung von Lexika scheitert einstweilen an der Tatsache, dass sich die Konzepte fast nirgendwo als digitale Objekte ansprechen und identifizieren lassen, da spezifische Normdaten (z.B. die Q-IDs des Wikidata-Projekts oder auch projekteigene IDs) fehlen.

Es erhebt sich nun die Frage, ob es nicht sinnvoll sein könnte, komplementär zu den Wikidata-IDs an Hallig/Wartburg 1963 anzuknüpfen und das dort formulierte ‘Begriffssystem’ zu generalisierbaren Normdaten zu erheben. Dagegen spricht ein ganz grundsätzlicher theoretischer Vorbehalt: Aus semiotischer Sicht nicht überzeugend ist die unklare Abgrenzung zwischen den onomasiologischen Basiskategorien, nämlich den außersprachlichen Konzepten einerseits und den (einzel)sprachlichen Bezeichnungen andererseits. Zwar wird ein Anspruch auf universale Verwendbarkeit formuliert:

"Wir glauben, mit dem Begriffssystem, das wir hier vorlegen, für die Lexikographie eine Grundlage geschaffen zu haben, welche die Darstellung des «Wortschatzes als Gesamtgefüge» ermöglichen könnte, unabhängig davon, welcher Sprache, welcher Mundart oder welcher Epoche dieses Wortgut angehört" (Hallig/Wartburg 1963, XXII).

Aber die 'Begriffe' dieses Systems oder: "Ordnungsschemas" entsprechen gerade nicht den Korrelaten jenseits der Sprache, auf die sich die sprachlichen Zeichen beziehen (den 'Sachen'), sondern es handelt sich ebenfalls um sprachliche, d.h. einzelsprachliche Zeichen (Bezeichnungen bzw. 'Wörter'):

"Dabei ist durchaus nicht an durch logische Operationen gefundene Begriffe gedacht, sondern nur an die durch die Leistung der Sprache bei der Verarbeitung der Welt geschaffenen vorwissenschaftlichen Allgemeinbegriffe, die von jedem erfasst, verstanden, gewußt und benutzt werden, mit anderen Worten an den «Popularbegriff» mit einem festen Kern und oft unscharfen Grenzen" Hallig/Wartburg 1963, XI).

Wissenschaftliche Begriffe werden also kategorisch ausgeschlossen und damit gerade auch die wenigen traditionellen, über die Einzelsprachen hinweg verlässlichen Referenzsysteme wie z.B. die auf Carl von Linné zurückgehende botanische Nomenklatur.

Aus aktueller enzyklopädischer Sicht muss man die Konzeption eines geschlossenen Begriffssystems

"nach dem Grundsatz der Sparsamkeit, jedoch so, daß jeder Seinsbereich, der im Weltbild der Sprache verarbeitet worden ist, auch in unserem Ordnungsschema vertreten sein muß" (Hallig/Wartburg 1963, XI)

als naiv bezeichnen, und es erübrigt sich, alle 'Seinsbereiche' aufzuzählen, die 1952 (bzw. 21963) nicht vorhersehbar waren und heute unseren Alltag prägen und regeln. Der Aufbau enzyklopädischer Orientierungssysteme ist nurmehr in offener und kollaborativer Weise vorstellbar.

VerbaAlpina begegnet der Gefahr, KONZEPTE und Bezeichnungen zu vermischen durch die Fundierung der Onomasiologie in ontologischen, oder wenigstens onotologisch relevanten Normdaten, wie sie vor allem durch Wikidata zur Verfügung gestellt werden.