VerbaAlpina: Der alpine Wortschatz und wie man ihn heute erforscht (Zitieren)

Thomas Krefeld


(1565 Wörter)

Sils Maria, 27.12.2017


Gegenstand dieses Vortrags ist das Projekt VerbaAlpina, das ich gemeinsam mit Stephan Lücke von der ITG leite. Es wird seit 2014 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und wurde hier bereits einmal vorgestellt, als es noch in einem sehr frühen embryonalen Zustand war (vgl. Engadiner_Post). Gegenstand ist die Mehrsprachigkeit des Alpenraums, in dem sich die drei großen europäischen Sprachfamilien, Germanisch, Romanisch und Slawisch getroffen haben und seit ca. 1500 Jahren neben- und miteinander existieren (). Die folgende Graphik schematisiert die alpine Sprachgeschichte; konstitutiv sind die Romanisierung des gesamten Gebiets und seine nachfolgende teilweise Germanisierung und Slawisierung. Damit ist zwar stets eine  Verdrängung der jeweils früheren Sprachen verbunden, insofern das Lateinisch-Romanische  die vorrömischen Sprachen verdrängt und  seinerseits in manchen Gebieten durch das Germanische und Slawische verdrängt wird. Aber der Verdrängung geht eine mehr oder weniger lang andauernde lokale Zweisprachigkeit voraus (in der Graphik durch Kugeln symbolisiert), die sich in Entlehnungen aus den verdrängten in die verdrängenden Sprachen niederschlägt.  So hat sich die bemerkenswerte Situation ergeben, dass etliche spezifisch alpine Wörter nicht auf eine der drei Sprachfamilien beschränkt sind, sondern über die Grenzen dieser Sprachfamilien hinaus Verbreitung gefunden haben.


Dieser Beitrag situiert das Projekt in der aktuellen Forschung und skizziert seine Konzeption und Durchführung; die thematischen Schwerpunkte lassen sich aus Schlüsselwörtern des Titels entwicklen.

(1) ...heute...

Seit ca. 15 Jahren, d.h. seit der zügigen Durchsetzung interaktiver und kollaborativer Strukturen im Internet Web 2.0  durchlaufen zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen einen Prozess tiefgreifenden Wandels, denn im Gefolge der medialen Revolution haben sich die Rahmenbedingungen der Wissenschaftskommunikation substantiell verändert (vgl. die oben auf dieser Seite angebrachte Einladung Schreibe eine Antwort). In den Disziplinen, die sich mit kulturellen Techniken und ihrer geschichtlichen Entwicklung befassen, kann dieser Wandel mit dem Schlagwort der digital humanities identifiziert werden. Es ist nicht überraschend, dass die Wissenschaftler unterschiedlich auf diese Situation reagieren, nämlich teils mit

  • offensiver Ablehnung (Motto: "Das bedeutet den Ausverkauf der akademischen Fächer"),
  • nonchalanter Indifferenz (Motto: "Der kindische Unfug lässt mich kalt"),
  • konstruktiver Akzeptanz (Motto: "Endlich wird möglich, was ich immer schon wollte").

Nicht im Sinn eines missionarischen Eifers, sondern aus rein forschungspraktischer Überzeugung kommt für datenorientierte Disziplinen wie die historische Sprachwissenschaft eigentlich nurmehr die dritte Haltung in Frage. Wenn man diese Herausforderung jedoch annimmt, ändert sich fast Alles.

(2) ...erforscht.

Für die Einrichtung von Forschungsvorhaben (und womöglich angeschlossener universitärer Lehre) mit den Mitteln der Webtechnologie wurde eine neue, nützliche Bezeichnung geprägt; man spricht von einer virtuellen Lehr- und Forschungsumgebung.

Dieser Ausdruck wurde erforderlich, da Wissenschaftskommunikation unter den Bedingungen des Web 2.0, wie oben skizziert, nicht mehr den etablierten Gattungen der gedruckten Traditionen folgen kann, oder zumindestens nicht mehr unbedingt folgen muss. Sprachwssenschaftlich relevante Gattungen sind zum Beispiel die Abhandlung, der Sprachatlas, das Wörterbuch oder  das Textkorpus. Jede Gattung erfüllt einen bestimmten Zweck, der auf keinen Fall aufgegeben werden sollte. Jedoch werden diese Zwecke aus ihrer Isolierung befreit und in untereinander verknüpfte Funktionen verwandelt, so dass es möglich ist ohne weiteres zwischen ihnen hin und her zu wechseln.

VerbaAlpina unterscheidet fünf Funktionsbereiche und mehrere Zugangsmöglichkeiten:

    • Dokumentation,
    • Kooperation,
    • Publikation,
    • Datenerhebung durch Crowdsourcing,
    • Forschungslaboratorium.

Diese Optionen sollen – von der letzten abgesehen – nun ausgehend von einem konkreten Beispiel vorgeführt werden. Einen unmittelbaren Zugang bieten die Reiter der Startseite. So eröffnet die ‚Interaktive Karte‘ eine kartographische Präsentation des dokumentierten Materials, die über mehrere Filter gesteuert wird. Der Filter KONZEPTE erschließt sämtliche Sachen und Vorgänge, deren Bezeichnungen erfasst sind (vgl. zur Notation), so zum Beispiel die BUTTER. Die belegten Bezeichnungstypen können ebenfalls herausgefiltert werden, so dass ihre jeweiligen Bedeutungen auf der Karte erscheinen.

Weiterhin ist es möglich von der  Karte aus den zugehörigen lexikologischen Kommentar abzurufen, so wie der lexikologische Kommentar in der entgegengesetzten Richtung zur kartographischen Päsentation führt – 'Atlas' und 'Wörterbuch' sind also systematisch verschränkt. Übrigens handelt es sich keineswegs um ein uninteressantes Allerweltsbeispiel, denn sowohl die Sache als auch ihre Bezeichnungen haben einen ausgeprägten Bezug zum Alpenraum. Die Nutzung des Milchfetts ist ja dort besonders nahe liegend, wo die wichtigste antike Quelle für Fett, der Olivenbaum, nicht gedeiht. Ab einer bestimmten Höhe konnten ausschließlich tierische Fette gewonnen werden, insbesondere SCHMALZ und BUTTER. Es ist daher nicht überraschend, sondern geradezu selbstverständlich, dass in einem Teil Graubündens, also in einer Gegend, wo BUTTER traditionell das Fett schlechthin darstellt, ihre Bezeichnung auf das lateinische pinguis 'fett' zurück geht. (; vgl. surs. pieun/engad. painch u.a. im Pledari grond).
Zwar war BUTTER grundsätzlich schon in der Antike bekannt, jedoch nicht als Nahrungsmittel, sondern als medizinische Salbe.

Auch die Herkunft anderer Formen ist bemerkenswert; rätoromanisch (surs.) pischada ist durch die Herstellung motiviert, denn dieser Typ geht wahrscheinlich auf das lateinische Verb *pisiare 'stampfen' zurück (vgl. s.v. pischada). BUTTER ist sehr leicht verderblich; durch Auslassen kann die Haltbarkeit ein wenig gesteigert werden. daher ist es gut verständlich, dass in manchen Gegenden die BUTTER als Schmalz bezeichnet wird (von schmelzen im Sinne von 'auslassen'; vgl. diese Karte). Dieser Bezeichnungstyp ist aus dem Germanischen auch ins Romanische übernommen worden und hat dort zu Bezeichnungen von verwandten Konzepten geführt (vgl. Basistyp butyrum sowie das folgende Entlehnungsschema:


Zur historischen Rahmung der dialektalen Verbreitungsgebiete ist es sinnvoll, sie mit anderen  georeferenzierbaren Informationen zu kombinieren. Im Hinblick auf die Romanisierung des Alpenraums im Gefolge der römischen Eroberung sind vor allem antike Quellen von Bedeutung.; aus diesem Grund wurden auch die gesicherten Inschriften und römerzeitlichen Ortsnamen aufgenommen (vgl. die Karte CIL und Tabula Peutingeriana sowie die Hinweise zu den historischen Daten); vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, dass sich oft alte Bedeutungen aus der Antike bis heute gerade da erhalten haben, wo auch bereits römische Inschriften und antike Ortsnamen bezeugt sind. So bezeichnet der Worttyp Keller < lat. cellarium im deutschsprachigen Alpenraum in der Regel keineswegs einen RAUM UNTER DEM ERDGESCHOSS, sondern – wie das Grundwort lat. cella – den VORRATS- bzw. LAGERRAUM.

Der Filter Kartographische Darstellung → Informanten zeigt, aus welchen zahlreichen sprachwissenschaftlichen Quellen sich die Dokumentation speist. Bei den meisten davon handelt es sich um gedruckte Quellen (Atlanten und Wörterbücher), die in aufwändiger Weise retrodigitalisiert wurden, so dass ihre Belege zu einem Dialektmosaik des ganzen Alpenbogens zusammengefügt werden konnten. Manche, bereits digital vorliegende Projekte haben uns auch umfangreiche Datenbestände zur Verfügung gestellt, so dass ihre daten – selbstverständlich mit Quellenangabe – auch in der verbaAlpine Kartographie erfasst werden können. Hier ist zum Beispiel ganz im Sinn breiter Kooperation der dolomitenladinische Sprachatlas (ALD) von Hans Goebl zu nennen (vgl. ALD-Informanten in VA).

Zusätzlich zur Präsentation der Daten, die bereits durch andere (meist) gedruckte Quellen publiziert wurden, nutzt VerbaAlpina seine Projektseite auch zur Neuerhebung von Daten mit einem so genannten Crowdsourcing-Verfahren. Interessierte Nutzer können für alle politischen Gemeinden des Alpenraums (im Sinn der Alpenkonvention) Bezeichnungen der von uns vorgegebenen Konzepte eingeben oder darüber hinaus auch neue Konzepte hinzufügen. Bislang sind seit dem 10.2.2017 immerhin über 7 300 Bezeichnungen geliefert worden (vgl. diese Statistik). Mit diesem einfachen Verfahren können Bezeichnungstypen zuverlässig erhoben werden – allerdings können zuverlässige phonetische Angaben nicht erwartet werden; die Phonetik tritt in VerbaAlpina daher zurück. Grundsätzlich wird jedoch erwogen, unter Umständen auch mit der Erhebung gesprochener Audiodaten zu beginnen; die technischen Probleme sind grundsätzlich gelöst.

(3) Der alpine Wortschatz...

Bei den eben genannten Beispielen Butter und Schmalz handelt es sich aktuell nicht um spezifisch alpine Ausdrücke, denn sie sind gelten ja auch in der deutschen Hochsprache und darüber hinaus (vgl. z.B. eng. butter, niederl. boter). Durchaus charakteristisch für das Alpengebiet ist jedoch die herausgestellte Verbreitung der Typen über die Grenzen der Sprachfamilien hinweg und im Hinblick auf die lange Tradition der alpinen Milchverarbeitung ist es keineswegs abwegig, sondern sogar plausibel anzunehmen, die hochsprachliche Form Butter habe sich ausgehend von den Alpen überhaupt erst verbreitet. Es wäre demnach davon auszugehen, dass sie eben in dieser Region aus dem Lateinisch-Romanischen entlehnt wurde.

Ein gutes sprachliches Argument für diese Vermutung ist die Tatsache, dass Butter im süddeutschen, d.h. im Bairischen und gelegentlich im Alemannischen, maskulines Genus besitzt (bair. der Butter im Unterschied zu hochdeutsch die Butter) und damit noch genau dem ebenfalls maskulinen rom. Typ butirro entspricht, von dem es entlehnt wurde; die  Karte ist eindeutig, da der leere Bereich zwischen beiden Gebieten nur den fehlenden, besser: ungenauen Daten geschuldet ist, da das Genus oft nicht notiert wurde.

Wirklich konstitutiv für den alpinen Sprachraum sind jedoch die Ausdrücke, die spezifische Konzepte bezeichnen und den Dialekten außerhalb der Alpen unbekannt sind. Einige Beispiele aus dem Bereich ALMWESEN und speziell aus der MILCHVERARBEITUNG sollen Charakteristika dieser Alpenwörter illustrieren:

Alpenwörter gehen meistens auf die Zeit zurück bevor der Alpenraum teils germanisiert und slawisiert wurde; sie stammen dann aus dem Lateinischen oder aus den (so gut wie unbekannten) vorrömischen  Sprachen dieses Raums.

Vorrömisch sind:

  • ALM/ALP
  • SENN und vgl. Niev vocabulari sursilvan online s.v. signun
  • ZIGER
  • TOMME, das charakterisch für die Westalpen ist; es ist übrigens auch deshalb interessant, weil es im Mittelalter, nach der Reromanisierung Siziliens mit Siedlern aus Nordwestitalien nach Sizilien gebracht wurde (vgl. tuma, tumazzu unter ALS online).

Die Zugehörigkeit des gesamten Gebiets zum Römischen Reich spiegelt sich exemplarisch gut in der Verbreitung des Typs lat. EXCOCTA, wörtlich 'Herausgekochtes', der sich sowohl im romanischen wie im deutschen und slowenischen Teil wiederfindet. Die zugehörigen Wörter (alem. Schotten, ita. scotta usw.) beziehen sich auf das Erhitzen der Molke, um die verbliebenen Feststoffe durch Zusatz von Säure als Gerinnungsmittel herauszufiltern; sie bezeichnen teils teils die Feststoffe, teils die Flüssigkeit.

Ein methodisches Lehrstück, jenseits der MILCHVERARBEITUNG ist die Bezeichnung der GÄMSE.