Mit Sklaven, Göttern, Munterkeit – Wie man sich (auf Italienisch) so verabschieden kann (Präsentation) (Zitieren)

Thomas Krefeld
Schlagwörter: Dialektologie , DH , Digital Humanities , Philologie , Pragmatik

(1581 Wörter)

LMU München, 2.11.2022

Dieser Präsentation liegt eine ausformulierte Version zu Grunde (Link).

  • Dank
  • Hommage: priv., Koll., 26 Docs
  • Erinnerung an:
    Andreas Blank, Fred Boller, Viviana Cessi, Uli Detges, Gabriele Iannaccaro, Evi & Peter Koch, Peter Linder, Marianne Oesterreicher-Mollwo & Wulf Oesterreicher, Wolfgang Schulze, Roberto Sottile
  • Spielregel: Lectio ultima brevis sit!

 

1. Sozialisation und Interesse

Maximes? Minima Moralia?1 → moralistische Maxima  der Neuen Frankfurter Schule!

(Textquelle F.W. Bernstein, Hintergrundbild)

 

"Ihr macht doch immer nur dasselbe!"

 

 

"dasselbe" = Dialektologie (Geolinguistik)

  • konstantes Forschungsinteresse (neben etlichen anderen), durch dreifache wissenschaftliche Sozialisation gekräftigt:
  1. während des Studiums und bis zur Promotion in Freiburg
  2. während der Lehre und bis zur Habilitation in Mainz
  3. durch Projektkooperation (seit 2005) und bis heute hier in München

 

Übergang 2. ( Johannes Gutenberg-Universität) → 3. (für mich Tim Berners-Lee-Universität, vulgo: Ludwig-Maximilians-Universität), Landeplatz jenseits der Gutenberg-Galaxis (vgl. McLuhan 1962)

„Because something is happening here,
but you don’t know what it is,
do you, Mr Jones?“ (Dylan 1965)

 

 

"It was just one of those things
[...]
Just one of those fabulous flights" (Cole Porter; interpr. von Sarah Vaughan)

 

 

2. Abschiedsgrüße aus der italienischen  und rätoromanischen Dialektlandschaft2

Quelle: der prototypische Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS, digital als NavigAIS) 

  • 1681 Karten, 20 Konjugationstabellen, lokale Dialekte von 416 Orten
  • mit einem Fragebuch erhoben, Anspruch: gesprochene Alltagssprache
  • Wortschatz, einigen grammatische Formen (der Morphologie)
  • ganz wenige ritualisierte Verwendungen aus der Pragmatik
    • der GRUSS (AIS 738 BUON GIORNO!)
    • der ABSCHIEDSGRUSS (AIS 739 ADDIO!)
      • in der Verwendung asymmetrisch, gesprochene Alltagssprache (zum geschriebenen, stilisierten Gruß vgl. Lebsanft 1988)
      • formal auch symmetrisch, gelegentlich identische Formen für GRUSS und ABSCHIEDSGRUSS (z.B. ciao, P 173)

 

AIS 738, Legende

ABSCHIEDSGRUSS

AIS 739 ADDIO! – nordwestlicher Ausschnitt

Daten → relationale Datenbank

  • ergänzbar
  • analysierbar
  • gruppierbar (Typenbildung) usw.
  • konform mit den FAIR-Prinzipien (vgl. Krefeld/Lücke 2020a: Findable – Accessible – Interoperable – Reusable

 

auf interaktiven Sprachkarten dokumentiert

  • schnelle Erfassung der Verbreitung

AIS 739 ADDIO! – nordwestlicher Ausschnitt in der interaktiven Version von VerbaAlpina (interaktives Original)

 

hochgradig konventionalisierte Ausdrücke, aber deutlich mehr Variation beim ABSCHIEDSGRUSS als beim GRUSS

  • warum?
  • mehr (sprachlich implizite) Emotion (vgl. Pustka 2015, Kap. 2) hinter den konventionellen Ausdrücken

unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten oft semantisch differenziert (Mehrfachbelegungen)

  • Datenlage: verlässlich, aber unvollständig

dokumentierte Parameter der Differenzierung (meine Hervorhebung; Th.K.):

    • die Vertrautheit der Person, von der man sich verabschiedet; vgl. den Kommentar zu
      P 159 (Isola Sant'Antonio) "1 bei Personen die man duzt, 2 bei Personen, die man mit Sie anredet";
      P 942 (Santo Lussurgiu) "Auch reγalaδíkke bei Personen, die man duzt, regalaδeɔkke bei Personen, die man mit Sie anredet";
    • das Alter der Person, die sich verabschiedet und der sprachlichen Form, die er benutzt; vgl. den Kommentar zu
      P 328 (Tramonti di Sotto) "nur Suj. braucht noch 2, er übersetzt ihn mit ‘con Dio’";
    • der soziale Status der implizierten Personen; vgl. den Kommentar zu
      P 246 (Bergamo) "2 zum Freund, 3 zum Vorgesetzten, sozial Höhergestellten";"
    • die (In)Formalität und Bedeutung der Situation; vgl. den Kommentar zu
      P 29 (Santa Maria, GR) "2 im Gespräch"
      P 542 (Montecatini) und P 550 (Castagneto Carducci) "2 wenn der Abschied für längere Zeit oder definitiv gilt";
      P 310 (Piazzola), wo neben den anscheinend synonymen Formen addio, ciao, allegri noch evviva ("wenn zwei aneinander vorübergehen" ) und zwei weitere Formen belegt sind  salute ("beim Begegnen") gebraucht werden.

2.1. Verbreitung

unterschiedlich weit verbreitet

    • manche grosso modo im gesamten Alpengebiet (so vor allem addio, ciao, salutare)
    • andere nur kleinräumig (so raccomandare, sani, tanquier (Germanismus, vgl. ahd. thankôn), vossignoria u.a.)
    • historische Karten hinterlegt, zugänglich auf der interaktiven Karte  über das Icon:

vgl. z.B. die Typen, sani, mandi ausschließlich in der Kirchenprovinz Aquileia 

 

2.2. Motivation

  • primäre Funktion: Ausdruck des Abschieds
  • sekundär: gute Wünsche, Ergebenheits- und Unterwerfungserklärungen

in historischer Perspektive drei Gruppen unterscheiden:

(1) christliche Tradition: die verabschiedete Person wird Gottes Schutz anempfohlen; der Karte am stärksten belegte Typ adieu / addio

  • eine Verkürzung des Ausdrucks vi raccomando / vi affido) a Dio 'ich empfehle Euch / ich vertraue Euch Gott an'; vgl. DELI, 19
  • alternative Kürzung im friaulischen Abschiedsgruß mandi aus (vi) raccomando (a Dio) vorliegen (friaulisch 1. Person Sg.  auf -i)
zugrunde liegender Ausdruck gebrauchte Kurzform
vi raccomando a Dio >mandi (Link)
> addio
  • vgl. bündnerromanische Verb pertgirar 'behüten, beschützen' (aus lat. percurare) in der ähnlichen Verbindung 'behüte Dich Gott!'
  • in zwei Orten Graubündens piatigot (vgl. bairisch pfüati 'behüte Dich Gott!'
    • Entlehnung Schweizerdeutsch → Romanisch
    • Abschiedsgrüße – Grüße überhaupt – schnell in andere Sprachen entlehnt
      • einer der beiden Orte mit dieser Entlehnung, Sils im Domleschg, inzwischen ganz zum Deutschen übergegangen
  • unabhängig von Sprachgrenzkonstellationen häufig Entlehnung von Grußformen
    • deu. hallo, eng. hello, span. hola usw.
    • südwestdeutsch/alemannisch sali (< fra. salut)
    • norddeutsch tschüs(s) bzw. rheinisch tschö (< fra. aus adieu ; vgl. DWDS, Link)
    • deu. ciao (vgl. DWDS, Link) aus ita. ciao

 

(2) ciao:  zweite Klasse, sozial motivierten Formen; ciao, venezianische Variante von ita. schiavo 'Sklave' (vgl. Canobbio 2011)

  • kulturgeschichtlich interessanten Entlehnungsweg, aus  byzantinisch-griechischen Σκλάβος 'Kriegsgefangener, Sklave', Rückbildung aus Σκλαβηνός (sklavinós) 'Slawe', Selbstbezeichnung der Slawen, mit denen die Byzantiner in fortwährende militärische Auseinandersetzungen verwickelt waren (vgl. FEW s.v. *slovēninŭ), daraus mittellateinische sclavus, in andere romanische und nicht romanische Sprachen vermittelt (vgl. zum Deu. DWDS, Link)
  • Unterwürfigkeitserklärung mit Sprecherreferenz
  • parallelel zu ciao süddeutsch / österreichisch servus, aus lateinisch servus 'Sklave' (vgl. Georges s.v. servus ; mit der habsburgischen Verwaltung in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verbreitet (vgl. ungar. szervusz, rum. servus)
  • ähnlich motiviert wie ciao, aber appellativ an den Angesprochenen adressiert: piem. ceréa / seréya, wohl Kurzformen des Typs vossignoria (vostra signoria) 'Euere Herrschaft' (vgl. Nuovo De Mauro s.v. vossignoria)

 

(3) essentiell zwischenmenschliche Grüße, jenseits von Religion und gesellschaftlicher Hierarchie

  • der verabschiedeten Person etwas Gutes, vor allem Gesundheit wünschen
    • state bene ‘gehabt Euch wohl’
    • sani ‘(bleibt) gesund’, usw.
    • Hoffnung auf ein gemeinsames Wiedersehen: au revoir ‘bis zum Wiedersehen’,  arrivederci bis wir uns wiedersehen’
    • nicht belegt der Wunsch nach Frieden (vgl. hebr. schalom, arab. salām ‘Frieden, Wohlergehen, Unversehrtheit’)

elementaren Form: rein performativer Abschiedsgruß: ein Wort ohne andere Bedeutung

  • fra. saluer / it. salutare 'grüßen' usw.,  sowohl für den Begegnungs- als auch für den Abschiedsgruß

salutare2 v. tr. [lat. salūtare «augurare salute», der. di salus -utis «salute»]. – 1. a. Rivolgere a una persona, nell’incontrarla o nell’accomiatarsi da lei, gesti o parole di saluto [...] (Treccani)

  • aus lateinisch lat. salutare), delokutive Ableitung  aus lat. salus; 'Wohlbefinden'
    • Bezeichnung des Grüßens aus dem Inhalt des Wunsches ('Wohlbefinden'), der als Gruß geäußert wurde
    • jemandem Wohlbefinden zu wünschen = protypischer Abschiedsgruß
    • deu. grüßen  ausschließlich für den Begegnungsgruß; für den Abschiedsgruß kein performatives deu. Verb

 

nicht sprachliche Ausdrucksmittel des Grußes (Winken, Umarmen, Küssen usw.), die die den Sprechakt begleiten oder auch ersetzen können, auf der hier ausgewerteten Karte (AIS 739) nicht thematisiert

aber: selbstverständlich, vgl. rum. a săruta ‘küssen’ aus lat. salutare ‘grüßen’

 

3. Performative Aneignung

Fremdspracherwerb = eine Art von Aneignung (engl. appropriation), positive Teilnahme an einer Kulturtechnik und den damit verbundenen Werten

in diesem Sinn Klasse (3) performativ zum Abschied: portez-vous bien 'halten Sie sich gut (auf den Beinen)' und bleiben Sie allegri 'munter'!

"Every time we say goodby..." (Cole Porter; interpr. von Sarah Vaughan)


  1. Vgl. das Kapitelchen Les Adieux in Adorno 2003, 290 f.: "Der Abschied ist veraltet, [...] »O Abschied, Brunnen aller Worte«, aber er ist versiegt, und nichts kommt heraus als bye, bye oder ta, ta." 

  2. Für die Diskussion einiger Grußtypen danke ich Beatrice Colcuc. 


Bibliographie

  • AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen, vol. 1-7
  • Adorno 2003 = Adorno, Theodor W. (2003 [1951]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main, Suhrkamp
  • Canobbio 2011 = Canobbio, Sabina (2011): Formule di saluto, in: Enciclopedia dell'Italiano. Link
  • DELI = Cortelazzo, Manlio/ Zolli, Paolo (1979): Dizionario etimologico della lingua italiana, Bologna, Zanichelli
  • DWDS = Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) (2004-): Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin. Link
  • FEW = Wartburg, Walter (1922-1967): Französisches etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes , Basel, vol. 20, Zbinden. Link
  • Georges = Georges, Heinrich (1913-1918): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet, Hannover, Hahnsche Buchhandlung. Link
  • Krefeld/Lücke 2020a = Krefeld, Thomas & Lücke, Stephan (2020): VerbaAlpina going FAIR – Was ein Projekt zu seiner Nachhaltigkeit beitragen kann (und was nicht), München. Link
  • Lebsanft 1988 = Lebsanft, Franz (1988): Studien zu einer Linguistik des Grusses - Sprache und Funktion der altfranzösischen Grussformeln, Tübingen, Niemeyer
  • McLuhan 1962 = McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy, London, Routledge & Kegan Paul
  • NavigAIS = Tisato, Graziano : NavigAIS. AIS Digital Atlas and Navigation Software, Padova, Istituto di Scienze e Tecnologie della Cognizione (ISTC) - Consiglio Nazionale delle ricerche (CNR). Link
  • Nuovo De Mauro = De Mauro, Tullio (2016): Il Nuovo de Mauro . Link
  • Pustka 2015 = Pustka, Elissa (2015): Expressivität. Eine kognitive Theorie angewandt auf romanische Quantitätsausdrücke, Berlin, Erich Schmidt